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Under Construction
Eine Fassade -viele Lebens(n)formen! Rede zur Gründungsfeier von unserer Vorstandsfrau Claudia Bender
Im Mittelpunkt aller Bemühungen und Aktionen steht für Despierta! die Emanzipation und Integration des Menschen als Angehöriger irgendeiner sog. „Randgruppe“ in all seiner Vielfalt, Einmaligkeit und jeweiligen Eigenart für eine solidarische Gemeinschaft.
Treffen viele Menschen, in ihrer Vielfalt und Individualität aufeinander, bereichern verschiedene soziale, biologische, psychische, kulturelle und politische Sichtweisen des Einzelnen die Gemeinschaft. Aufgrund dieser Vielfalt und Einmaligkeit des Einzelnen ist es erforderlich, immer dann, wenn Menschen in einer größeren Gesellschaft zusammenleben, für ein gedeihliches Miteinander allgemeingültige Grundsätze aufzustellen. Diese Art universeller „Gewohnheitsbildung“ erfordert ordnende Regeln, an die sich alle in der Gesellschaft gerne halten mögen – sofern diese sinnvoll erscheinen, humanistische Grundrechte spiegeln und damit der Menschlichkeit nicht widersprechen.
Diese Regeln werden in Gesetzen, Normen, Werten, persönlichen Einstellungen und Moralvorstellungen festgelegt, welche vom jeweiligen Kulturkreis und vielen weiteren Faktoren beeinflusst werden.
Dabei sollte zwischen zeitlich stabilen Grundwerten und flexiblen Normen, Werten und Moralvorstellungen unterschieden werden. Grundwerte spiegeln sich meist in Verfassungen und Gesetzen wider, wogegen Normen, Werte, Einstellungen und Moral von einem stets veränderbaren „Zeitgeist“ bzw. Epochen beeinflusst werden (Entwicklungen wie zum Beispiel Barock oder Aufklärung).
Bildlich betrachtet kann man ein solches Gesamtregelwerk mit einem großen Gebäude vergleichen, dessen zeitgenössische Gestaltung der Fassade auf gewisse Ausprägungen auf und „hinter der Fassade“ schließen lassen.
Man betrachte dazu die außergewöhnliche Kunstinstallation am heutigen Abend! Künstlerin Beatrice Anlauff von FRAKTALI.de hat ehrenamtlich einen originellen und einmaligen Leuchtkörper aus Alltagsmaterialien kreiert, installiert und damit ein Gemälde ausgeleuchtet, welches eine barocke Gebäudefassade zeigt
Schauen wir bildlich gesprochen „hinter die Gebäudefassade“ wird hier von den Aktiven und Unterstützern die eigentliche Arbeit geleistet, welche die sichtbare Fassade dann nach außen hin mehr oder weniger harmonisch präsentiert. Erst dann kann die Arbeit an der Hauptfassade von allen, die vorüber schlendern, gesehen werden!
Auch Gesetze könnte man mit einer Fassade, die immer wieder restauriert und ins Licht gesetzt werden muss gleichsetzen. Um an solche einer Gesetzes-Fassade zu arbeiten, braucht es jedoch Unterstützer, Aktive und Sympathisanten, die an genau dieser äußeren Fassade mitarbeiten wollen.
Auch aus diesem Grunde feiern wir heute Abend hier alle zusammen!
Die bunte Fassade des neu gegründeten Vereins Despierta! gemeinsam sichtbar zu gestalten ist das Ziel!
Denn jede Fassade wird durch eine große Anzahl von unverzichtbaren strukturgebenden charakteristischen Umrahmungen gebildet und will anerkennend betrachtet werden.
Übertragen wir diese Vorstellung auf die gesellschaftliche Umrandung durch menschliche Vielfalt, gehören über zwei Drittel der Menschen zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens einer „umrahmten Rand-Gruppe“ an.
Was bedeutet dies übertragen auf hiesiges Gebäudefassadengemälde, welches aus dem Dunkel heraus geholt und ins warme Licht gesetzt wurde?
Im Licht wird die Fassadenstruktur überhaupt erst sichtbar. Der ausgeleuchtete und nun erkennbare „Rand“ bildet quasi die gesellschaftliche Struktur einer sichtbaren kulturellen und politischen Fassade – der Rand bildet dabei die Konturen und hält das äußere Erscheinungsbild des Gebäudes - um bei unserer Vorstellungskraft zu bleiben - fühlbar für alle zusammen! So trägt jede „Rand-Gruppe“ unverzichtbar zu einer lebendig aktuellen Entwicklung der Gesellschaft mit ihren Regeln bei.
Frauen, Schwule, Lesben, Kinder, Arme, ethnisch oder religiös Fremde, Behinderte, chronisch Kranke, Väter, Mütter, Migranten, Alte … sie alle fordern ihre Rechte ein und betonen selbstbewusst ihre Eigenart als „Rand“. Sie wollen keine Almosen und kein Mitleid. Sie streben vielmehr nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit, „stehen auf“ gegen Diskriminierungen, Missbrauch, Ungleichbehandlungen und beschreiten den Weg der „Emanzipation“, trotz oder gerade wegen ungleich schlechterer Chancen.
Ziel all dieses Strebens ist die Integration auch von Schwulen und Lesben im Spannungsfeld zwischen „Hingabe und Abneigung“, aus dessen Gegensätzlichkeit unser Leben besteht - hinein in eine Gemeinschaft in der es zunehmend wohltuend „menschelt“.
In unserer Gesellschaft und schnelllebigen Zeit beruht die Intoleranz gegenüber sog. Rand-Gruppen meist auf Wissens- und Informationsdefiziten sowie der „Nicht-Bereitschaft“ oder Bequemlichkeit sich mit Minderheitsgedanken auseinanderzusetzen. Deshalb ging Despierta! bereits vor Jahren in die Öffentlichkeit, um auf sich aufmerksam zu machen, im Sinne von aufklärendem Verständnis für friedliche Toleranz, Wertschätzung und Anerkennung menschlicher Vielfalt (z.B. Adoptionsrecht für Schwule/Lesben, gegen Missbrauch…). Despierta! folgt sozialpolitisch couragiert dem Wunsch Rand-Gruppen zu integrieren, zu informieren und in der Gesellschaft für mehr „Menschlichkeit“ zu werben.
Aber gerade die heutige Gesellschaft lässt immer mehr Menschlichkeit vermissen. Dabei lässt sich mit dem sprachlich „entkörperten“ Begriff „Gesellschaft“ leicht diskutieren und darauf schimpfen. Vergessen wir aber bitte niemals, dass dieser anonymisierte Begriff erst durch die Existenz vieler - in ihrer Art vielseitiger und einzigartiger - Menschen Gestalt annimmt.
Es nützt also wenig, auf diese Gesellschaft oder deren Regeln zu schimpfen und etwaige Mängel pauschal anzuprangern. Hier gilt es Ursachenerforschung zu betreiben und Verantwortliche oder Gruppen beim Namen zu nennen, Wissenslücken zu schließen und gleichzeitig konstruktive Lösungen aufzuzeigen.
Statt Werteverfall, Diskriminierung und Missbrauch gegenüber Rand-Gruppen passiv anzuklagen, - wie beispielsweise unserer heutigen Jugend - will Despierta! vorbildlich durch sinnvolle Aktionen „auf stehen!“.
Meine Erfahrung lehrte mich beispielsweise, dass viele schwul/lesbische Jugendliche weniger mit manipulativen Worten jonglieren, sondern vielmehr durch sichtbare Taten und selbstbewusstes Verhalten ihre Mitmenschen positiv überraschen. Die zeitliche Entwicklung innerhalb einer Gesellschaft bringt es dabei mit sich, dass sich unsere Jugend „irgendwie“ mit uns entwickelt. Dabei sollten wir Kinder und Jugendliche genauso wie uns selbst fördern, statt permanent zu (über)fordern oder anzuprangern, wie in folgendem immer noch aktuellen Zitat:
„Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“
(Aristoteles, gr. Philosoph, 384-322 v. Chr.). Sicher hätte Aristoteles die heutigen Gender- und Queer Gedanken mit berücksichtigt, wenn dies zu dem Zeitpunkt schon im Zeitgeist vorhanden gewesen wäre und zeigt eindrucksvoll, dass bereits die damalige Gesellschafts-Fassade bröckelte - bis heute. Lasst uns bitte nie vergessen, alle Kinder und Jugendlichen von heute sind die (Gesetzes-)Fassadengestalter von morgen.
In diesem Sinne ist unsere heutige Jugend nicht schlechter, sie ist halt anders – und dies gilt für JEDE sogenannte „Rand-Gruppe“!
In diesem Sinne Despierta!
„Steh auf!“ für eine solidarische bunte Gemeinschaft in Toleranz, Respekt, Anerkennung und Wertschätzung gegenüber menschlicher Vielfalt und Einmaligkeit des Einzelnen.
Ihre/Eure
Claudia Bender